Das Verhältnis von Literatur und Autor:innen mit biografischem ‚Migrationshintergrund‘ ist in der Germanistik insbesondere seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstärkt in den Blick gerückt. Neben der Exilforschung, die sich u.a. für den Zusammenhang zwischen Exilerfahrungen (1933–1945) und ästhetischen Schreibverfahren interessiert, etablierten sich nun auch Forschungsinteressen für deutschsprachige Texte von Migrant*innen, die als ‚Gastarbeiter-‘ und ‚Migrantenliteratur‘ diskutiert wurden (was mittlerweile aus verschiedenen Gründen und aus der Perspektive verschiedener Akteur*innen kritisiert und revidiert wurde). Nur wenige umfassende Studien zum Verhältnis von Migrationsbiografien und deutschsprachiger Literatur liegen allerdings für die Zeit zwischen der Französischen Revolution und dem Beginn des Ersten Weltkriegs vor. Das überrascht nicht zuletzt deswegen, weil das 19. Jahrhundert auch im deutschsprachigen Raum als ‚Jahrhundert der Auswanderung’ gilt und mit den ersten Phasen überseeischer ‚Massenmigrationen‘ in Verbindung gebracht wird (zwischen 1816 und 1914 emigrierten ca. 5,5 Millionen aus dem deutschsprachigen Raum).

Hier setzt das Seminar mit einem doppelten Erkenntnisinteresse an: Zum einen stehen (bekannte und weniger bekannte) literarische und dokumentarische Texte des 19. Jahrhunderts zur Diskussion, in denen Migrationsbiografien zur Darstellung gebracht werden und/oder Autor*innen die eigene Migrationsbiografien literarisch bzw. dokumentarisch verarbeiten. Geklärt werden soll in diesem Zusammenhang, welche kulturhistorisch relevanten Phänomene der Migration in den Texten repräsentiert und reflektiert werden und welche Aspekte und Effekte der Migration in Bezug auf das Er/Leben der Figuren zur Anschauung gelangen. Zum anderen erkundet das Seminar verschiedene methodische Zugänge einer biographischen Migrationsforschung (u.a. aus den Sozial- und Geschichtswissenschaften), um den Fallstricken und verengenden Lesarten eines ‚migrantischen‘ Biografismus produktiv begegnen zu können.