Die Kritik ‚kultureller Aneignung‘ bildet gegenwärtig einen prominenten Konfliktschauplatz aktueller Debatten. Dabei ist der Vorwurf der „Aneignung“, ein Eigentumsverhältnis markierend, mit der negativen Konnotation eines hegemonialen Aktes der Enteignung, Entwendung verbunden. Von ‚Aneignung‘ ist aber in anderen, emanzipatorischen Kontexten durchaus positiv die Rede, etwa wenn es um Wissenserwerb geht. In rechtlichen, politischen, philosophischen und ästhetischen Kontexten entfaltet der Begriff unterschiedliche und in Spannung zueinander stehende Bedeutungsdimensionen zwischen der negativen Konnotation in Macht- und Ausbeutungsverhältnissen, mit machtkritischem und subversivem Potential verbunden oder Praktiken der produktiven, aktualisierenden Aufnahme, Transformation und (Re)Kontextualisierung bezeichnend. 

Wenn wir nach Theorie und Praxis kritischen Literatur- und Kulturtransfers fragen, nehmen wir exemplarisch unterschiedliche historische und aktuelle Schauplätze in den Blick, auf denen jeweils auch ein bestimmtes Literatur- und Kulturverständnis zur Disposition steht. Inzwischen scheint es zum kultur- und literaturwissenschaftlichen ‚State of the Art‘ zu gehören, dass Kulturen keine abgeschlossenen, ‚reinen‘ Entitäten sind, sondern in vielfältigen dynamischen Wechselbeziehungen miteinander stehen und dass Literatur immer schon aus Literatur gemacht ist, mithin ihre Vitalität gerade ungeklärten Eigentumsverhältnissen verdankt. Nicht nur das Schreiben von Literatur, auch Lektüre, Kommentar, Zitat, Interpretation und Übersetzung sind letztlich produktive Formen der Aneignung.  Und hier enden nicht, sondern zeigen sich erst kritische Fragen: nach Machtdynamiken, Inszenierungspraktiken und selbstreflexiven Dimensionen, die ästhetische mit ethischen und politischen Aspekten verbinden.

Ausgehend von verschiedenen theoretischen Ansätzen (Schleiermacher, Marx, Freud, Benjamin, Adorno/Horkheimer, Foucault, Rothberg) wollen wir uns ausgewählten Texten der Gegenwartsliteratur, u.a. im Kontext der Shoah (etwa Imre Kertész' Essay Wem gehört Auschwitz?) und des historischen Exils (Michael Lentz: Pazifik Exil) im Zusammenhang mit postkolonialen Fragen (etwa Dorothee Elmigers Aus der Zuckerfabrik) sowie der Debatte um Jeanine Cummins American Dirt u.a.m. zuwenden.