Aristoteles definiert die Anagnorisis bzw. die ‚Wiedererkennung‘ als einen „Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis“ (Poetik, cap. 11), die im besten Fall mit der Peripetie in eins fällt. Nun war die ‚Poetik‘ des Aristoteles den Dichtern des 13. Jahrhunderts nicht bekannt, doch auch in der mittelhochdeutschen Epik finden sich zahlreiche Wiedererkennungsszenen, die einen Wendepunkt der Handlung markieren. So etwa, wenn Gregorius und seine Mutter ihren Inzest erkennen, wenn Iwein und Gawein oder Parzival und sein Bruder Feirefiz einander im Kampf erkennen, oder wenn sich das Liebespaar Mai und Beaflor final wiedererkennt. Es soll nach der narrativen Funktion, nach gattungsspezifischen Unterschieden und den historisch-kulturellen Bedingtheiten solcher (Wieder-)erkennungsszenen gefragt werden, um dem Motiv der Anagnorisis anhand einiger mittelhochdeutscher Textbeispiele systematisch nachzugehen.
- Trainer/in: Julius Herr