Der Titel des Seminars ist in zweierlei Hinsicht sein Programm: Zum einen lesen wir literarische Texte, in denen Quallen, Kraken und Kalmare ihre Auftritte haben, beginnend mit Auszügen aus Victor Hugos Arbeiter des Meeres (1866), Jules Vernes Zwanzigtausend Meilen unter den Meeren (1869/70) über H. P. Lovecraft Cthulus Ruf (1928) und John Wyndhams Wenn der Krake erwacht (1953) hin zu Marie Gamillschegs Aufruhr der Meerestiere (2022) und Luca Kiesers Weil da war etwas im Wasser (2023). Gemeinsam ist diesen Texten, dass sie auf je eigene Art Tiere in Szene setzen, die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zu regelrechten Repräsentanten der Entdeckungs- und (Nicht-)Wissensgeschichte der Tiefsee wurden und mit ihrer glitschigen und mitunter riesenhaften Körperlichkeit immer wieder Fragen des Monströsen, der Form und der Unform aufwerfen. Von bloßen Objekten des Denkens und der Darstellung scheinen diese Tiere aber auch besonders leicht zu ihren Mitteln und Medien (wenn nicht gar zu ihren Subjekten) werden zu können. Texte mit Tentakeln lesen heißt deshalb zum anderen auch, sich damit zu beschäftigen, ob sich im Zeichen des Kraken die Logik des Imaginativen ausloten lässt (Caillois 1973); nachzuverfolgen, wie gerade dieses Tier zu einer bis heute wirkmächtigen politischen Leitmetapher werden konnte (Lindemann 2021); zu fragen, mit welchen Konsequenzen der Mensch vom Standpunkt eines Tintenfisches in seinem Wirbeltierdasein kritisiert werden kann (Flusser und Bec 1987); und zu diskutieren, inwiefern es angesichts unserer NaturKulturen Zeit ist, selbst ein „tentakuläres Denken“ zu erproben, schließlich kommt schon das Wort ›Tentakel‹ vom „lateinischen tentaculum […], was »Fühler« bedeutet, und von tentare, das tasten und ausprobieren meint“ (Haraway 2018, S. 48). In diesem Sinn soll das Seminar vor allem eins sein: ein Versuch.
- Trainer/in: Lena Kugler