Begleitkurs zum Hybridseminar im Sommersemester 2020.

Dass (auch) in mittelalterlichen Erzählungen geschlafen wird, ist kaum verwunderlich: müde vom Kampf, nach anstrengender Reise oder von ausdauerndem Gebet kann sich so mancher Held nicht mehr auf den Beinen halten. Geschlafen wird zudem an amönen Orten, die (vor allem Liebespaare) als idyllischer Ruheplatz regelrecht dazu einladen, aufgrund ‚magischen‘ Einflusses oder auch schlicht, weil nichts anderes zu tun bleibt.

Ausgehend also von der Beobachtung, dass geschlafen wird, soll im Seminar die Frage nach der jeweiligen Funktion des Schlafe(n)s gestellt werden. Denn narratologisch betrachtet ist Schlaf mehr als ein physiologisch notwendiger Ruhezustand, kann er doch etwa funktional vom Erzähler eingesetzt werden, um beispielsweise eine Figur ‚aussetzen zu lassen‘ oder einen Registerwechsel (hin zur Vision, zum Traum etc.) anzuzeigen. Außerdem verleitet Schlafen / verleiten Schlafende nicht nur die Figuren innerhalb der Diegese, sondern auch Rezipienten zu vielfältigen Deutungen. So gilt der Schlaf in Erwartung des Liebespartners in der Minnekasuistik etwa als Fauxpas, während in der Legendarik mitunter streng zwischen dem Schlaf der Gerechten und dem der Sünder geschieden wird und beieinander schlafende (Liebes-)Paare (mitunter fälschlich) klares Zeichen für die Art ihrer Verbindung geben. Zuletzt kann Schlaf auch als Figurenstrategie eingesetzt werden, die bewusst schlafen oder Schlaf vortäuschen, um kritische Situationen zu meistern oder dazu den Schlaf Dritter ausnutzen.

Mit der dezidiert narratologischen und nicht primär kulturwissenschaftlichen Frage nach der Funktion (also nicht etwa der Bedeutung) von Schlaf(en) in mittelalterlicher Erzählliteratur betritt das Seminar ein von der Forschung noch weitgehend unentdecktes Terrain und richtet sich an alle, die sich auf ein – mitunter lektüreintensives – Experiment mit unterschiedlichen Fallbeispielen (in Auszügen unter anderem: Wigalois, Tristan, Mauritius von Craûn, Flore und Blanscheflur, Crône) einlassen möchten.