In diesem Seminar wollen wir uns mit Flucht sowohl als Thematik aber auch Denkbewegung in verschiedenen Kunstformen angesichts akuter politischer Repressionsdynamiken von Fluchtverhinderung und -kriminalisierung der "Festung Europa" auseinandersetzen.

Was zeichnet ein vom Fliehen gezeichnetes Denken und Sprechen aus? Wie kann über konkrete Fluchterfahrungen gesprochen werden? Und auf welche Probleme stoßen künstlerische Ausdrucksformen, die sich diesen Realitäten zuwenden?  

 

Das Seminar besteht aus drei Teilen mit jeweils unterschiedlichen Kooperationsformaten, die Sie als Teilnehmer:innen aktiv mitgestalten können:

 

Neben einem Einstieg über literarische Texte aus Antike und Moderne (über Auzüge aus der Bibel, Aischylos‘ Tragödie Die Schutzflehenden bis hin zu Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenenim ersten Teil des Seminars, wollen wir uns insbesondere verschiedene Erzählungen von Anna Seghers in den Blick nehmen, die ihre eigene Flucht thematisieren (z.B. Reise ins Elfte Reich), aber auch spätere Texte untersuchen, in denen sie ihr Exil in Mexiko und den sich daraus neu ergebenden Konstellationen verarbeitet (Karibische Erzählungen).

Wir knüpfen hier an das Anfang Juni erscheinende Themenheft der Zeitschrift Sprache und Literatur mit dem Titel "Flucht und Verflechtung. Zur Bildung eines 'unsteten' Archivs" an. Am Mittwoch, den 05.06., wird es zu diesem Anlass eine Podiumsdiskussion mit den Herausgeber:innen und verschiedenen Beitragenden geben.

 

Teil des Podiums wird auch der Historiker, Literaturwissenschaftler und Antisemitismus- und Migrationsforscher Dr. Mohammad Sarhangi sein, der maßgeblich an dem Oral History Projekt Archiv der Flucht mitgearbeitet hat, das 2015 von Carolin Emcke und Manuela Bojadžijev am Haus der Kulturen der Welt in Berlin ins Leben gerufen wurde.

Dieses Archiv sammelt als "digitaler Gedächtnisort" bisher kaum in ihrer Relevanz adäquat beleuchtete, sehr unterschiedliche Flucht- und Migrationsgeschichten nach Deutschland aus dem 20. und 21. Jahrhundert: "Die Erfahrungen von Menschen, die alles zurückgelassen haben und hier Zuflucht fanden, prägen die beiden deutschen Staaten (und ihre Beziehung zueinander) von Beginn an" und "offenbaren [...] auch überraschende, vielfältige Perspektiven deutscher Geschichte. Ihre Geschichten zeigen, dass Flucht und Migration nach Deutschland keine Ausnahmen oder krisenhaften Anomalien sind, sondern historische Normalität. Trotzdem hat es lange gedauert bis die Pluralität der Herkünfte und Erfahrungen der hier lebenden Menschen auch im öffentlichen Selbstverständnis der Gesellschaft angekommen ist."

Wir wollen uns im zweiten Teil intensiv mit diesem Oral History Projekt beschäftigen und insbesondere das Spannungsverhältnis von faktualem Berichten, persönlichem Erinnern und Fiktionalisierungsmomenten kritisch reflektieren. Sarhangi wird am Donnerstag, den 06.06., in einem Werkstattgespräch über seine Arbeit und Erfahrungen mit uns sprechen.

 

Im dritten Teil des Seminars widmen wir uns schließlich den dokumentarisch-experimentellen Zugängen des französischen Filmemachers und Lyrikers Sylvain George, der seit beinahe 20 Jahren den harschen Realitäten der abgeschotteten EU-Außengrenzen in Calais und Melilla ein Bild abzuringen sucht und dabei dissidenten Formen von Flucht, die sich den Logiken der Grenzsetzungen radikal widersetzen, in den Fokus rückt.

George Arbeiten stehen dabei in einem engen Austausch mit theoretischen, philosophischen Überlegungen, u.a. Walter Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen und Überlegungen zum dialektischen Bild, Giorgio Agambens Homo sacer-Projekt oder Jacques Rancières Reflexionen über Dissens und dem Verhältnis von Politik und Ästhetik, die wir in diesem Block z.T. miteinbeziehen werden.

Neben zwei früheren Filmen in Calais (Qu’ils reposent en révolte (Des figures de guerre) (2011), Les Eclats (Ma gueule, ma révolte, mon nom) (2012)), die uns beschäftigen werden, lesen wir Auszüge aus Georges lyrischen und essayistischen Arbeiten (La Vita Bruta (2016), Noir Inconnu [Wanderer] (2022)).

 

In Kooperation mit dem Kinokollektiv Pupille - Kino in der Uni werden wir vom Westend Campus nach Bockenheim ziehen und dort gemeinsam im Kino Georges beide ersten Teile der geplanten Trilogie Nuit Obscure, die er in Melilla realisiert hat, schauen.

 

Am 13.06. läuft der erste Teil Nuit Obscure - Feuillets sauvages (Les brûlants, les obstinés) (2022) und am 04.07. der zweite, Nuit Obscure - Au Revoir Ici, N'Importe Où (2023).

Am zweiten Termin wird Sylvain George für ein Filmgespräch zu Gast sein.