Wer sich mit Literatur auseinandersetzt, trifft unweigerlich – und in einem okzidentalen Kontext mit der wirkmächtigen Figur des Odysseus sozusagen „von den Anfängen an“ – auf den Modus des Lügens: auf List, Verstellkunst und Täuschung. Auf ein Handeln, Sprechen und Schreiben also, das nicht primär auf eine möglichst unverfälschte Ausdrucksweise der Wahrheit oder tatsächlich stattgefundenen Gegebenheiten ausgerichtet ist, wie es etwa die Philosophie oder Geschichtsschreibung klassischerweise für sich beanspruchen. „Literatur“ in dieser Konstellation wäre demnach ein Bereich der geduldeten, weil eingehegten Lüge.
Doch sind die Verhältnisbestimmungen von Lüge, Falschheit, Scheinhaftigkeit und Wahrheit, Faktizität und Wirklichkeit keineswegs selbstverständlich geschweige denn immer schon in Formen dieser sehr unterschiedlichen sprachbezogenen Institutionen namens „Philosophie“, „Geschichte“ oder „Literatur“ (zu nennen wären natürlich auch „Recht“, „Politik“, „Theologie“, usf.) gegeben gewesen – ebenso wenig wie diese Institutionen selbst.
Im Seminar wollen wir uns deshalb gemeinsam in textintensiver Zusammenarbeit verschiedenen Komplexitäten ausgehend von der Lüge grenz- und gattungsübergreifend zuwenden. Was ist in den verschiedenen Kontexten gemeint, wenn von „Lüge“ die Rede ist? Welche Differenzierungen lassen sich im Verhältnis zur bloßen Falschaussage, zum Irrtum, zum Missverständnis ausmachen? Welche sprachtheoretischen Grundfragen werden von der Lüge berührt und problematisiert? Kann ich mich selbst (unbewusst) belügen? Inwiefern kann (muss, soll) die Lüge moralisch abgeurteilt werden – von wem oder für wen, in welchem Kontext und mit welcher Berechtigung?


Mögliche Lektüren zur groben Orientierung wären deshalb: Homer (Odyssee), Sophokles (Philoktetes, ggf. zusammen mit Heiner Müllers‘ Verarbeitung Philoktet), Platon (Hippias minorSophistes), Aristoteles (Nikomachische Ethik, Metaphysik (Buch Gamma), Sophistische Wiederlegungen), Augustinus (De mendacioContra mendacio), Michel de Montaigne (Des menteurs), Immanuel Kant (Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen), Friedrich Nietzsche (Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne), Sigmund Freud (Zwei Kinderlügen, der Lemberg-Kracau-Witz aus Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten), Brecht (Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit), Marcel Proust (der Albertine-Lügengeschichten-Komplex in À la Recherche du temps perdu), Maria Torok und Nicolas Abraham (Cryptonymie – Le verbier de l’homme aux loups), Hannah Arendt (Die Lüge in der Politik, Wahrheit und Politik) Jacques Derrida (Histoire du mensongeLe parjure, peut-être), Barbara Cassin (L’Effet sophistiqueLe bonheur, sa dent douce à la mort)