2. Abschied von Lukas dem Lokomotivführer

In der Süddeutschen Zeitung vom 12. Dezember 2017 lese ich von der Premieren- und Pannenfahrt der Deutschen Bahn auf der neuen ICE Schnellstrecke München – Berlin. Als ICE-Vielfahrer stellen sich bei mir bei der Schilderung der Umleitungs- und Verspätungsorgien von über zwei Stunden die Nackenhaare auf. Dabei soll ein neues digitales Signal- und Steuersystem, European Train Control System (ETCS), unteranderem für das schnelle Zugfahren sorgen. So könnten Züge „dann in einigen Jahren flächendeckend automatisch fahren. Möglicherweise sogar ganz ohne Lokführer. … Die Digitalisierung des Schienenverkehrs würde zwar einen zweistelligen Milliardenbetrag kosten. Sie könnte aber auch Personalkosten sparen.“ Was macht das nun mit mir, mit uns, wenn wir so etwas lesen. Schnell und pünktlich das ist gut! Und was ist mit dem Personal? Nun, wo gehobelt wird, da fallen Späne. Aber es sind selten die Späne, die eine solche Geschichte schreiben.

Autor: Ralph Müller

Es ist unsere Lust an der Perfektion, am alten Longius, Altius, Fortius, die uns glauben macht wir wären auf der Seite des Hobels. Doch das kann eine Täuschung sein. Oder macht sich hier die Maschine mit Hilfe des Menschen nicht einfach frei von dessen Beschränktheit? Das klingt nun arg nach wildester Verschwörungstheorie. Und natürlich kann ein ICE, eine digitale Signalanlage, ein Streckennetz nicht wollen. Aber der Mensch kann wollen, dass sein Beschränktsein in der Welt endlich aufhöre – notfalls auch ohne ihn.

Luciano Floridi schreibt in seinem Beitrag „Die Mangroven-Gesellschaft“ den Effekt der Umhüllung. Er bezeichnet damit das Phänomen, im Englischen auch envelope genannt, dass wir Maschinen in der Regel so konzipieren, dass sie innerhalb einer definierten Umgebung funktionieren. Das ist ihr envelope, ihre Umhüllung. Wir passen uns weniger der Umwelt an, wie es vielleicht noch sogenannten Naturvölkern gelingt (wenn auch mit immer größeren Schwierigkeiten), sondern wir passen unsere Umwelt an, so dass in aktueller Konsequenz „… man die Welt umhüllt, indem man eine feindliche Umgebung in eine digitalisierungsfreundliche Infosphäre verwandelt“. Was umso gerechtfertigter erscheint, je mehr man sich dabei auf Menschenwerk wie Maschinen und Systeme konzentriert. Doch dass, so Floridi, könnte nicht im Sinne des nach Kant aufgeklärten Menschen sein, der stets Zweck und niemals Mittel dazu sein sollte.

Dies könne zum einen darin bestehen, dass in einer IKT-konformen und umhüllten Welt, die dort arbeitenden Systeme zum Handlungssubjekt werden und Menschen in weitestgehend automatisierten Prozessen dort anfordern, wo sie selber nicht tätig werden können, im Verstehen und Interpretieren. (Wohlgemerkt ein Verstehen und Interpretieren in einer IKT-umhüllten Welt im menschlichen Sinne, ist dort zu deren Funktionieren nicht erforderlich!) In der gelebten Praxis sind dies Konzepte wie sie von IKT-getriebenen Firmen wie Amazon beschrieben werden, der Mensch als Mechanical Turk oder „künstliche künstliche Intelligenz“.

Neben dieser eher industriellen Metapher gibt es in finanzmarktwirtschaftlicher Hinsicht ein weiteres Feld der Objektivierung. Nach Floridi besteht keine Geschäftsbeziehung zwischen einem Anbieter und einem Kunden, sondern zwischen Anbieter und dessen Bankkonto bzw. Kreditrahmen. Der menschliche Kunde fungiert in dieser Systemsicht als Schnittstelle, die es zu beeinflussen gilt. Der Kunde wird dabei umso mehr Mittel zum Zweck je stärker er glaubt in den Angeboten seine Bedürfnisse und deren Befriedigung widergespiegelt zu sehen.