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Frage 9 zu Christine Lubkoll

Re: Frage 9 zu Christine Lubkoll

von Luca Nasner -
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Von den drei in der Fragestellung aufgeworfenen Ebenen der "Kippfiguren" ist insbesondere die des Erzählers interessant. Dieser tritt aus der Erzählung heraus und adressiert den Leser direkt, ja involviert ihn insofern in die Handlung, als dass er dessen fehlende Anwesenheit im verhängnisvollen Moment des Hexenrituals, das er hätte verhindern können, bedauert. Nun ließe sich recht leicht folgern, dass Hoffmann so versucht, die Fiktionalität der Erzählung aufzubrechen, ja den Leser von der Wahrhaftigkeit, oder zumindest der Möglichkeit, romantischer Phantastik zu überzeugen, indem er ihn direkt ins Geschehen wirft. Dagegen lässt sich einwenden, dass gerade derartige Versuche der Authentifizierung im Gegenteil dazu führen, den Leser auf seine Position des rein Rezipierenden zurückzuführen - schließlich weiß er ja, dass er nicht in der Kutsche in der Umgebung Dresdens war und auch nie in Anselmus' Arbeitszimmer Alkoholisches trinken wird. Die Eröffnung der Möglichkeit, der Leser könnte ja teil der Erzählung werden, bewirkt erst, die Fiktionalität zu vollenden.
Ein ähnliches Muster zeigt sich in der kurzen Brieferzählung "Haimatochare", die von einem Erzählervorwort eingeleitet wird, das mithilfe des bekannten Namens des Weltumseglers A.v.C. (Hoffmanns Publikum wird gewusst haben, dass es sich um Adelbert von Chamisso handelt), die Authentizität der nachfolgenden Briefe darzustellen. Doch gerade der Verweis auf die Echtheit effiziert erst die Zweifel an dieser: wenn die Briefe echt sind, warum musst du uns dann sagen, dass sie es sind? Der Erzähler im Goldenen Topf täuscht sich selbst auf dieselbe Weise: wenn die phantastische Romantik so real ist, wieso musst du dann betonen, dass sie es ist? Zu einfach wäre es aber auch, dem Erzähler nun ein Scheitern zu unterstellen, viel mehr muss diese verwickelte Taktik als romantisches Spiel mit dem Leser verstanden werden, der sich eben durch den scheinbaren Aufbruch der Fiktion der wirklichen Fiktion gewahr wird. Auf den Begriff der Heimsuchung zurückkommend lässt sich dessen schillernde Bedeutung anhand des Erzählers reflektieren: er versucht den Leser durch dessen Involvierung heimzusuchen, ist durch sein immanentes Scheitern, das ein Scheitern des nicht-fiktional Phantastischen selbst impliziert, heimatlos.